Überraschenderweise war die Wiener U-Bahn anfangs als reines Ingenieurbauwerk geplant, ohne besondere architektonische Ausgestaltung. Erst 1970 - die Baustellen der U1 fraßen sich schon durch die Stadt - veranstaltete man doch einen Architektenwettbewerb. Vier grundsätzliche Lösungen wurden gesucht:
- Tiefstation, offene Bauweise
- Tiefstation, geschlossene (Röhren-) Bauweise
- Hochstation
- Umbau einer Otto-Wagner-Tiefstation
Die Teilnahme der Architektenschaft war überraschend gering. Keine Einreichung überzeugte auf Anhieb, so wurden zwei zweite Preise vergeben: An das Team Marschalek, Ladstätter, Gantar sowie Wilhelm Holzbauer. Seitens der Auslober dürfte man dem jungen Team Marschalek/Ladstätter/Gantar "sicherheitshalber" den erfahrene Holzbauer zur Seite gestellt haben. Ihre Ideen ähnelten sich, beide schlugen ein Paneelsystem vor, mit dem alle Stationstypen einheitlich verkleidet werden sollten. Bewusst entschied man sich gegen das Konzept, jede Station einzigartig zu gestalten; ähnlich wie bei Otto Wagners Stadtbahn sollte die Wiener U-Bahn ein Bauwerk sein, das sich erkennbar durch die ganze Stadt zieht.
Aus dem Wettbewerb: Konzepte für Wagner-Stationen
Holzbauer, Erben (oben)
Marschalek, Ladstätter, Gantar, Sramek (unten)
Die beiden zweitplazierten schlossen sich zusammen und gründeten die "Architektengruppe U-Bahn", deren ikonische, wiedererkennbare Stationen bis heute das Bild der wichtigsten U-Bahn-Strecken prägen. Typisch für die damalige Zeit war das "Arbeiten mit Handschlagqualität": Es existiert keine Gründungsurkunde, so ist es selbst der heutigen AGU unklar, wann die Zusammenarbeit tatsächlich begonnen wurde. Neben der AGU lief die Arbeit an den sonstigen Projekten der jeweiligen Architekten in den eigenen Büros weiter.
Auszüge aus "Vorentwurf für die Gestaltung der U-Bahn Wien", © Architektengruppe U-Bahn 1971
Ende 1971 war das Kompendium fertiggestellt, in dem die Gestaltungsgrundsätze definiert wurden. Manches war dabei noch anders als das heute gewohnte Design, so war an "Wandpaneele in Silberfarbe" gedacht, und als Bodenbelag wollte man Gumminoppenboden verwenden; beides wurde dann zum Glück noch geändert. Die Stärke des gemeinsamen Entwurfs liegt dabei in der fortlaufenden Reduktion, bis die ursprünglichen Konzepte auf so extrem schlichte Formen "eingedampft" waren, dass sie auch heute noch überzeugen: Jedes für die 1970er typische Element wurde soweit neutralisiert, dass die Stationen bis heute zeitlos wirken.
Es wäre aber nicht Wien, hätte man wirklich konsequent gehandelt - ein verdienter, der Gemeinde nahe stehender Architekt musste auch berücksichtigt werden, seine Entwürfe fallen gegenüber dem stringenten Stationsdesign der AGU deutlich ab.
Wie oben erwähnt, war die architektonische Ausgestaltung zu Beginn nicht mitgedacht. Start der heute typischen "U-Bahn-Architektur" war bei der Station Taubstummengasse, die nach der Gründung der AGU zu einer Musterstation wurde.
Das prinzipielle Konzept des AGU-Entwurfs konnte hier bereits ab Mitte der 1970er Jahre gezeigt werden: im Bahnsteigbereich weiße beschichtete Phenolharzpaneele als Verkleidung, Fugen in Linienfarbe; in den Passagengeschoßen weiß emaillierte Stahlplatten. Ein Lichtband markiert zusammen mit einer Granitkante den Abschluss zum dunklen, abweisenden Gleisbereich. Typisch für die Architektur der 1970er Jahre sind die Viertelbögen und die sich organisch aus den Flächen herausentwickelnden Funktionselemente (Zielanzeigen, Sitzbänke, Mistkübel bis hin zum Leitsystem).
In den weiteren Stationen des Grundnetzes bewies das System seine Flexibilität. Auch bei Abweichungen von den im Wettbewerb erwähnten Stationsformen ließ sich die Architektur harmonisch anpassen, wie beim Schwedenplatz (Einzelbahnsteige mit Rechteckquerschnitt bei der U1, überbreiter Mittelbahnsteig bei der U4), Friedensbrücke (Mittelbahnsteig im Freien) oder den kleinen Tiefstationen der äußeren U4 (Unter St.Veit, Braunschweiggasse): Das Vokabular des vorhandenen "Baukastens" war immer ausreichend. Durch die vorgezogene Verlängerung der U1 nach Kagran (Einsturz der Reichsbrücke) konnte die AGU nun auch die Entwürfe für große Hochstationen in die Praxis umsetzen.
Die außergewöhnliche Gestaltung der Wiener U-Bahn erregte internationale Aufmerksamkeit. 1982 wurde die AGU mit der Gestaltung der 26 km langen neuen Metrolinie in Vancouver beauftragt; 1983 erhielt das Team den Reynolds Award des American Institute of Architects.
Leider wurde das Wiener Grundnetz nicht einheitlich gestaltet. Am Karlsplatz wurde Dr. Kurt Schlauss beauftragt; seine Idee war, die konstruktiven Elemente zu zeigen. Prinzipiell schlüssig, seine Materialwahl war aber fragwürdig: Glasplatten als Stationsverkleidung (besonders in der Röhrenstation der U1 eine teure Entscheidung), dazu ein für die 1960er Jahre zeitgemäßer Materialmix. Insgesamt wirkt die große Station uneinheitlich und beliebig, die orange gestrichene Tragkonstruktion am U4-Bahnsteig unmotiviert. Schlauss, akademisch ausgebildet zwischen 1938 und 1948, war häufig für die Gemeinde Wien tätig, neben der Straßenbahnschleife Schottenring hat er zum Beispiel das Hochhaus auf den Gartenbaugründen (Ringstraße), das Matzleinsdorfer Hochhaus oder das Pfeilgassen-Studentenheim, aber auch einige Brücken geplant - solide, aber durchschnittliche Alltagsarchitektur. Auch den Umbau der "Straßenbahn-Zweierlinie" zur U2 und die Station Schottentor durfte Schlauss gestalten; im Gegensatz zu den Entwürfen der AGU wirkten die von Schlauss schon bei der Eröffnung veraltet.
Ein Sonderfall ist die Station Hütteldorf der U4: Die alte Stadtbahnstation war nicht Teil der Otto-Wagner-Station, die Stadtbahn endete schon vorher in einer Gleisschleife. Die U4 wurde wieder in die Eisenbahnstation geführt, allerdings mit neuer Gleislage (Mittelbahnsteig). Die wienflussseitige Otto-Wagner-Fassade wurde neu gebaut, der überdachte Mittelbahnsteig von der Architektin Erika Geiger (aus dem Umkreis von Schlauss) unspektakulär, aber gefällig dekoriert.
Architektengruppe U-Bahn
Dr. Kurt Schlauss (Architektenlexikon)
Ein kritischer Artikel in "Nextroom" zu Schlauss
Fotosammlung Architektengruppe U-Bahn, 1.Baustufe
Fotosammlung Architekt Kurt Schlauss / Geiger
Nach dem Erfolg des U-Bahn-Grundnetzes wurden die Entwurfsprinzipien von der AGU weiterentwickelt. Einerseits wurden die Architekten nicht mehr nur als "Dekorateure" der Ingenieurbauwerke beschäftigt, sondern planten von Anfang an mit; andererseits hat man auch das grundlegende Konstruktionsprinzig der Stationen geändert. Führten früher die Stiegen, Rolltreppen und Lifte vom Bahnsteig in ein "Passagengeschoß", von dem dann erst einzelne Aufgänge die Oberfläche erreichten, versuchte man nun, Rolltreppen "ohne umsteigen" direkt vom Bahnsteig aufs Straßenniveau zu führen. Stationsüberwachung, Fahrscheinautomaten etc. wurden nun in großen Pavillons im Straßenraum angeordnet. Als durchaus erwünschter Nebeneffekt fällt dadurch Tageslicht bis zum Bahnsteig - eine bis heute überzeugende Lösung, international herausragend. Insbesondre bei der U3 wurde das Prinzip so weit wie möglich durchgezogen; diese Linie kann als Höhepunkt in der architektonischen Entwicklung der Wiener U-Bahn gesehen werden.
Leider wurden die Architektenleistungen auch in der zweiten Baustufe inkonsequent vergeben. Einerseits war natürlich Kurt Schlauss wieder mit von der Partie, er durfte sich sich mit der U3-Station Volkstheater, aber auch mit der U6-Station Michelbeuern sowie dem Meidlinger Teil der U6 verwirklichen.
Ein weiterer Sonderfall ist die Station Erdberg, die von den Wiener Linien nahestehenden Architekten DI Rudolf Keimel und DI Friedrich Winkler zusammen mit dem Betriebsbahnhof geplant wurde. Anders als die Schlauss-Granitorgien fällt sie aber nicht weiter auf, da sie sich weithgehend der selben Elementen bedient wie die AGU-Stationen. Rudolf Keimel hat übrigens auch die 1980 eröffnete Stadtbahnstation Thaliastraße mitentworfen. Etwas skurril ist dabei der Umstand, dass Architekt Winkler während der Bauphase an einem Tauchunfall verstarb und ausgerechnet Ing. Marschalek von der AGU einsprang.
Fotosammlung Architektengruppe U-Bahn, 2.Baustufe
In der Literatur wurde sie erst als "dritte Ausbaustufe" bezeichnet, sie schloss sich aber nahtlos an die davor an, mit drei Neubaustrecken und einem Umbauprojekt: Die Linien U3 und U6 wurden jeweils an beiden Enden verlängert. Die Stationen Spittelau, Dresdner Straße und Floridsdorf an der U6 Nord wurden dabei vom Büro "KuPa" (Architekten Otto Kucera, Helmut Partsch und Gerhard Moßburger) geplant, einer Abspaltung der AGU, allerdings nach deren Richtlinien; die AGU wurde dann auch im Lauf der Arbeit wieder beigezogen. Stadtbildprägend sind dabei die Hochstation Spittelau mit einer neuen U4-Haltestelle und die U-/S-Bahnknoten Floridsdorf.
Ende 1991 wanderte die Zuständigkeit für den U-Bahn-Bau von der MA 38 zu den Wiener Verkehrsbetrieben (davor hatte die MA 38 den Bau durchgeführt und das fertige Projekt dann an die Verkehrsbetriebe übergeben). Der Umbau der Schnellstraßenbahnlinie 64 auf U-Bahn Betrieb (U6 Süd) war das erste eigene Projekt der Verkehrsbetriebe, sie planten schlichte Hochstationen. Johann Georg Gsteu wurde erst nach Planungsbeginn auf Veranlassung der MA19 mit der Überarbeitung der Entwürfe beauftragt, seine Stationsgebäude wirken technoid-skulptural, die Außenfassaden der Stationen im Wellblech-Industriedesign scheinen aber teilweise zu wenig dauerhaft. Ein Sonderfall auf der Strecke ist die Station Alterlaa, seinerzeit für die Linie 64 vom Architektenteam Glück, Hlaweniczka, Requat, Reinthaller entworfen und für die U6 bestandswahrend verlängert - eine "Zeitkapsel" der 1970er Jahre.
Bei der Nachrüstung der Station Erlaaer Straße mit einem neuen Aufgang (Planung: AGU) wurde der Stil des inzwischen verstorbenen J.G.Gsteu nicht fortgeführt.
Johann Georg Gsteu (Austria-Wiki)
Fotosammlung U6 Süd, Johann Georg Gsteu
1996 wurde zwischen Stadt Wien und Bund ein neuer U-Bahn-Vertrag abgeschlossen, das "30-Milliarden-Schilling-Paket". Ursprünglich sollte es die Verlängerung der U1 nach Norden und Süden sowie die der U6 nach Norden (Stammersdorf) enthalten. Berechnungen zeigten aber bald, dass eine neue donauquerende Linie Richtung Osten wichtiger wäre - der Startschuss für die U2 vom Schottenring über Praterstern nach Aspern. Das bedeutete neben de Neubau durch den 2. Bezirk auch einen erneuten Umbau der "Zweierlinie" für Langzüge.
Für die U2 wurde ein neuer Architekturwettbewerb ausgeschrieben, bei dem die AGU erstmals nicht zum Zug kam. Preisträger waren das Büro Moßburger (Tiefstationen) sowie Katzberger (Hochstationen). Die AGU blieb aber nicht unbeschäftigt: Auf der Nordverlängerung der U1 wurde das Design der inzwischen historischen Altstrecke wieder aufgenommen, mit den typischen Viertelrundbögen der 1970er Jahre - und es wirkt auch heute noch so zeitlos wie damals, eine Bestätigung für den herausragenden Entwurf 40 Jahre davor!
Fotosammlung U2 Ost, Mossburger + Katzberger
Fotosammlung Architektengruppe U-Bahn, 4.Baustufe
Wie schon nach der zweiten Ausbaustufe ging auch die dritte nahtlos in die vierte Ausbaustufe über. Nun wurde die U1 nach Süden verlängert, wobei erst nach Rothneusiedl gebaut werden sollte. Nachdem in dem Bereich bis auf weiteres keine Wohnbebauung absehbar war, legte man die Trasse Richtung nach Oberlaa, auch weil dort ein kostengünstiger Betriebshof möglich war. Das zweite Projekt betraf die Verlängerung der U2 in die Seestadt. Bei beiden Projekten war schon spürbar, dass es wichtiger war, die U-Bahn weiter zu bauen, als wirkliche Verkehrsbedürfnisse zu erfüllen.
Bei der Stationsarchitektur gab es nichts neues - die U1 wurde im klassischen Design der 1970er fertig gebaut, die Hochstationen der U2 entsprechen den schon bestehenden. Die weiteren Linienoptionen dieser Bauphase wurden zu Recht nicht realisiert. Einerseits wollte man die U2 vom Karlsplatz in einem Bogen durch den 3. Bezirk in den Bereich Arsenal/Gudrustraße führen - eine sehr schwierige und teure Strecke ohne nennenswerten Verkehrswert - andererseits untersuchte man Linienverlängerungen wie U4 nach Auhof, U6 Nord über Stammersdorf hinaus oder U6 Süd über die Trasse der Badner Bahn. Alle Versionen waren unwirtschaftlich, eine U-Bahn für 800 Fahrgäste alle paar Minuten in dünn besiedelte Gebiete zu führen hat schlichtweg keinen Sinn.
Schlussendlich wurden die Mittel der abgesagten Projekte umgeschichtet und eine neue Linie wieder aus der Schublade geholt, die erstmals 2003 im Masterplan Verkehr erwähnt wurde: Die "Auskreuzung U2/5" mit einer neuen Route für die U2 ab Rathausplatz Richtung Süden zum Matzleinsdorfer Platz und einer Verlängerung der bestehenden Altstrecke der U2 vom Karlsplatz über Landesgericht nach Michelbeuern und Hernals als U5. Dieses Linienkreuz wird derzeit gebaut, der Aufwand ist hoch, die Kosten bereits explodiert, der Verkehrswert teilweise fragwürdig: nur eine einzige neue Station (Bacherplatz) entlang der Neubaustrecke der U2, dafür sehr tiefe Führung mit unattraktiv langen Zugangswegen.
Nach einem erneuten Wettbewerb wurden die Architektenteams Franz&Sue und YF (Bernd Scheffknecht und Markus Bösch) als Gestalter ausgewählt. Leitmotiv der U5 (bisher U2) ist eine "Partitur der Geschwindigkeit", allerdings wirken die Entwürfe bei weitem nicht so überzeugend wie die bisher realisierten U-Bahn-Stationen. Die Abgänge im Straßenniveau wirken nicht urban und zeitlos, sondern eher wuchtig und Aufmerksamkeit heischend; die breiten Stege der Einhausungen sind erfahrungsgemäß Ziel von Schmierereien und Wildplakatierern. Die Innenbereiche der Stationen wirken beliebig und schon jetzt nicht mehr zeitgemäß.
Modellfotos: Manfred Helmer / Wiener Linien
Quellen:
Gespräch mit DI Xaver Marschalek und DI Andreas Jerabek, Architektengruppe U-Bahn 17.1.2022
Archiv Harald A. Jahn
Artikel zur U-Bahn-Architektur:
Presse Spectrum, 26.2.2022
Forum Mobil, 30.3.2022
Geramond, 1.8.2022
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Letzte Änderung: 19.2.2024