Wien, Stephansplatz. Eine Altbauwohnung mit etwa 200 Quadratmetern, seit Jahrzehnten nicht mehr renoviert; eine Zeitkapsel mit den Resten eines langen
Lebens. Über den Schichten vergangener Erinnerungen liegen Fragmente einer kurzen
Theaterproduktion: Um Kafka ging es, um den „Prozess“. Nichts hätte besser
gepasst, hier, in der Wohnung eines ehemaligen Rechtsanwalts und seiner Frau.
Andenken an Jahrzehnte, persönliche Dokumente, Tagebücher mit Dingen, die man
niederschreiben musste, und die 30 Jahre später nun doch belanglos sind. In den
Rudimenten zu wühlen, fühlt sich obszön an: Was vom Leben bleibt, sind staubige
Notizbücher, zerfallende Urkunden, sentimentale Briefe an die Kinder, so persönlich wie banal. Die Inhalte des aufbewahrten Schriftguts haben sich über die Jahre geändert: von Rechtswissenschaft und Medizin zu später ebenso sorgsam gesammelten Strickanleitungen aus Burda-Heften. Die Handlungsfäden eines 90-jährigen Lebens sind gemeinsam mit denen aus Kafkas Stücken auf Garnspulen gewickelt; sie werden nie wieder entwirrt.
Feature von Harald A. Jahn: ca 40 Fotos, Bildzeilen, Kurztext (ca 1000 Zeichen).